aus: Gaidao 64 (von Mona Alona)

Grundprobleme von antiautoritären Gruppen in
der individualistischen Gesellschaft:
Das Bockhaben und die Vermeidung von Ver-
einbarungen
(Der folgende Text ist eine polemische Zuspitzung, mit dem ernsten Anliegen, auf Probleme in antiautoritären Gruppen aufmerksam zu machen, wobei keine Lösungsvorschläge mitgeliefert werden. Ich vermute, dass auch viele andere Antiautoritären ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass hierarchiefreie, basisdemokratische Prozesse möglich sind und auch produktiv sein können – für anarchistische Ansätze sind sie unumgänglich. Dazu müssen Vereinbarungen getroffen werden, eine kollektive Organisierung geschehen und das „Bockhaben“ Einzelner darf nicht die verbindliche Übernahme von durch die Gruppe definierte Aufgaben ersetzen. Das heißt selbstverständlich nicht, dass alle Aktivitäten in Gruppen durchzuführen sind.)

Allem vorangestellt sei, dass niemand gezwungen werden darf; dass
niemand gezwungen werden darf, dies oder jenes tun zu müssen – sei
es im Namen der Sache (stets bewusst unbestimmt gehalten, damit sie
von Durchsetzungsstarken nach ihrem Gutdünken definiert werden
kann), der Gruppe (auf die wir sozial und emotional angewiesen sind),
der Ideale (auch wenn sie nicht so genannt werden) oder der
Grundsätze (auch wenn oft geleugnet wird, dass es welche gibt und
geben sollte). Im Gegensatz zu Verträgen die verpflichten und sich
Dritter bedienen, um unter Androhung von Zwang eingehalten zu
werden, sind gemeinsame Vereinbarungen Definitionssache. Sie werden
getroffen, sie können verändert und aus ihnen kann sich zurückgezogen
werden. Aus ihnen sollte sich zurückgezogen werden, wenn sie dem
Willen einer oder eines Vereinbarenden zutiefst widerstreben und sich
keine Möglichkeit auftut oder sie verweigert wird, die Vereinbarung
entsprechend anzupassen. Den Einzelnen muss ihr voller Wert, als den
ganz bestimmten und wandelbaren Menschen zukommen, die sie sind.
Ihre Anerkennung, ihr Bewusstsein, ihr Selbstrespekt speisen sich aus
ihrer Fähigkeit und ihrem Recht Nein zu sagen und sich aus einer
Vereinbarung zurück zu ziehen – möglichst begründet, möglichst ohne
Groll, möglichst ohne die Anderen zu verletzen, möglichst in
selbstkritischer Auseinandersetzung anstatt aus einer Affekthandlung
heraus.
Ein Problem im undogmatisch-linken Gewabere ist, dass selten
Vereinbarungen getroffen werden. Diese Haltung ist fatal, haben die
Einzelnen doch jeweils ganz bestimmte Ansprüche, an die anderen und
einen Gruppenzusammenhang. Die*der Antiautoritäre ordnet sich nicht
unter – und sei es unter die Vereinbarung, welche in kollektivem
Gruppenprozess gefunden wurde. Darum werden kollektive
Gruppenprozesse zum Finden von Vereinbarungen soweit es geht gleich
vermieden, schließlich würde das bedeuten, dass die Einzelnen jeweils
Position beziehen und eigene Ansichten zu einem Thema entwickeln
müssten. (Was freilich etwas ganz anderes ist, als irgendwelche
Standpunkte nachzuplappern oder sich einfach denen anzuschließen,
die charismatisch auftreten oder zu denen man sich hingezogen fühlt.)
Darin zum Ausdruck kommt ein sehr verschrobenes Verständnis
liberaler Freiheit, bei dem niemand ins vermeintlich Eigene hineinreden
soll. Übertüncht wird es mit den Reflexen der repressiven Durchsetzung
von „Harmonie“, „achtsamen Umgang“, „angemessenem Redeverhalten“
und anderem. Sie speisen sich aus jener tief sitzenden Angst, vor den
anderen unangenehm aufzutreten, möglicherweise irritierende,
verstörende und unpopuläre Dinge zu sagen, bei Jüngeren gar als
uncool zu gelten. Eine ziemliche Gradwanderung, fordert und honoriert
das antiautoritäre Rudel doch gleichzeitig auch Initiative,
vermeintlichen Eigensinn und markante Charakterzüge. Mit der
falschen Annahme, ihnen auf diese Weise Geltung zu schaffen, werden
gemeinsame Vereinbarungen also wo es geht vermieden. Wo sie
getroffen werden, wird ihre prinzipielle Auflösbarkeit betont. Gemeint
damit ist aber ihre Unverbindlichkeit. Wo jene nicht erwähnt wird,
ziehen sich im Verlauf einfach verschiedene Einzelne aus ihnen
kommentarlos zurück. Oder sie geben irgendwelche Gründe an, wobei
die eigentlichen ihnen zumeist selbst nicht bewusst sind. Und aufgrund
der falsch verstandenen Freiheit, die oft Beliebigkeit meint, auch nicht
oft auch nicht bewusst gemacht werden.
Ein anderes, damit stark verknüpftes, Problem besteht darin, dass jede*r
nur tun soll, worauf sie*er „Bock“ hat (Stichwort „Voluntarismus“). Hat
eine Person keinen Bock auf eine Sache, kann er*sie ja auch schlecht dazu gezwungen werden. Trotzdem gibt es hier die Möglichkeiten der
emotionalen Erpressung oder des wohlwollenden Einbindens oder des
pseudo-ernstgemeinten „Nachfragens“. Damit hat sich’s aber auch.
Schließlich wurden zumeist gar keine gemeinsamen und möglichst
basisdemokratischen Vereinbarungen getroffen, geschweige denn
gemeinsame Aufgaben definiert und diese gemeinsam und gerecht
verteilt. Was bleibt ist darum der Bock. Wenn jemand Bock hat, was zu
machen, darf sie*er es gerne tun. Immer gerne, denn Initiative und
selbständiges Engagement sind so wichtig. Ob das dann im Sinne der
Anderen geschieht, in ihrem oder gar dem gemeinsamen Interesse oder
ob es sie überhaupt interessiert – stellt sich dann meistens erst hinter
her aus.
Die Einen lassen sich also von der Gruppe mitschleifen, weil sie in ihr
vorrangig ihre sozialen Bedürfnisse befriedigen (fast immer ohne, dass
dies direkt zugegeben oder explizit ausgesprochen werden würde), weil
sie durch Initiative, Klugscheißerei und das Lächeln anderer gehemmt
sind und ihre Fähigkeiten unterschätzen, oder weil sie zu feige und in
ihren Schädeln zu verstrickt sind, um etwas anzupacken, was nie ihren
Perfektionsvorstellungen entspricht oder gar scheitern könnte. Die
Anderen haben „Bock“: Sie beschreiben, wie die Lage im Allgemeinen
und Speziellen aussieht (stets vergessend, dass es sich um ihre eigene
Perspektive handelt, die sie den anderen unterschieben). Sie definieren,
welche Aufgaben es (ihrer Meinung nach) objektiv zu tun gäbe und auf
welche Weise (die sich ja nun mal bewährt hat) diese gelöst werden
müssten. Sie tun dann so, als hätte es an diesem Punkt schon eine
kollektive Meinungsbildung darüber gegeben und werfen die Frage auf,
wer denn nun die Aufgabe übernähme – um sie letztendlich immer
wieder selbst zu übernehmen.
Es ist klar, dass es sich hierbei nicht um einen basisdemokratischen
Prozess für kollektive Vereinbarungen handelt, der die Einzelnen mit
ihren jeweiligen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Ressourcen ernst nimmt
oder überhaupt wahr nimmt. Unsäglicherweise wird genau die Haltung
des Bockhabens für derart verfehlte Gruppenprozesse, die sich in der
Regel sehr schnell einschleifen, als Voraussetzung angesehen. Auf Dauer
führt das zu Widersprüchen, wenn beispielsweise doch jemand Fragen
nach Gleichberechtigung, dem „Klima“, der Effektivität, den eigenen
Gruppenzielen oder des Fernbleibens einzelner Personen von der
Gruppe, anspricht.
Damit wird dann verschiedentlich umgegangen. Manche bestehen
darauf, dass alles so weiter laufen müsse wie bisher und wenn jemand
keinen Bock hätte, dann sei’s nun mal so, denn ohne „Bock“ könne man
nichts machen. Manche überlegen, wie sie es Einzelnen, denen „kein
Bock“ zu haben unterstellt wird mit Argumenten zu überzeugen oder
eher noch mit Leckerlis zu konditionieren, wenn sich Bock in Ansätzen
zeigt. Manche sehen schon etwas weiter, weil sie das eh tun; weil sie
(vielleicht aus purer Freude) eh immer alles – als „zwischenmenschlich“
Betrachtete – problematisieren (wahrscheinlich, weil es sooo
„interessant“ ist). Sie schlagen dann zum Beispiel vor, mal
„grundsätzlich über uns“ zu reden und sich dafür „soviel Zeit, wie es
eben braucht“ zu nehmen, in der putzigen Annahme, dass sich „alle
wohlfühlen“ sei das wichtigste auf der Welt. Am Ende wird dann viel
geredet. Was ja menschlich immer so gut tut und so wichtig ist, dann es
gibt ja so viel zu lernen, weil wir „sind ja alle in ner Gesellschaft groß
geworden, wo wir das überhaupt nicht so erlernen können mit der
Hierarchiefreiheit und der Achtsamkeit und deswegen is ja schon voll
gut, dass wir da jetzt mal drüber reden“ und so weiter.
Nur Fragen nach eigener Organisierung, Strukturierung, und Modi der
Vereinbarungsfindung der Ermöglichung ihrer verbindlichen
Einhaltung werden penibel vermieden. Eher werden die beobachteten
„Probleme“ vor Dritten ausgeweidet und im besten Fall noch eine Person herangezogen, die tolle Erfahrungen mit Gruppenprozessen hat, da voll sensibel ist und das klärende Gespräch moderieren würde. Nur sich mal hinzusetzen und die erste gemeinsame Entscheidung zu treffen (man könnte sagen: die Mutter aller Entscheidungen), nämlich jene, wie
in der Gruppe künftig Vereinbarungen getroffen und ihre weitestgehend
verbindliche Umsetzung abgesichert werden können, das geschieht
nicht. Ebenso wenig, wie die darauf folgenden Vereinbarungen darüber,
worin Inhalte der Gruppe bestehen, wie sie funktionieren, auf welche
Zeit sie bestehen soll und letztendlich auch darüber, wer zu ihr gehören
soll und wer nicht. Denn: dem liberalen, antiautoritären Bewusstsein
scheint schon all dies ausschließend, unfreundlich, hierarchisch,
zurichtend, mit Zwang behaftet und aus „unserer privilegierten Position
heraus“ anmaßend zu sein. Insgeheim geht es ihm aber um die Angst,
Abstriche von dem zu machen, was als „Freiheit“ missverstanden wird;
es geht um den Unwillen kritisiert zu werden; die Anstrengung die
Anderen als Einzelne und als Gruppe wirklich mitzudenken oder um
die Vermeidung der Erkenntnis, dass die Gruppe vielleicht doch nicht
nur Selbstzweck und zur Steigerung des Selbstwertgefühls der
Einzelnen da sein, sondern auch tatsächlich die auch Ziele verfolgen
müsste, unter deren Dach sie sich ursprünglich (zumindest offiziell)
zusammen fand.
Und also – wenn sie sich nicht totdiskutiert, gestritten oder
harmonisiert haben; wenn nicht zu viele klammheimlich oder mit
knallender Tür gegangen sind, während andere ihren Leistungsfetisch
pflegen – bleibt alles beim Alten: Irgendwelche einzelnen Leute haben
Bock auf irgendwas, fangen es unabgesprochen und intransparent an,
ob die anderen darauf Bock haben oder nicht, wobei sie sich einreden
im Sinne der Gruppe zu handeln. Einige, die das Bedürfnis danach
haben, bestimmen für sich und andere die Inhalte und Ziele der Gruppe
und wer dazu gehören soll, wobei sie dauernd aneinander geraten, weil
sie jene nie als kollektive, verbindliche Vereinbarungen einrichten.
Manche wiederum setzen sich kaum oder gar nicht mit diesen Dingen
auseinander, weil sie keinen Bock haben, sich an etwas völlig
unbestimmten zu beteiligen, wo mehrere Einzelne gleich verschiedene
Richtungen vorgeben und Ansprüche aufmachen wollen, die aber nie
kollektiv gefundene sind. Enttäuschungen und Handlungsunfähigkeit
sind die Folgen. Im besten Fall haben aber alle unheimlich viel am
Gruppenprozess mit diesen tollen Menschen gelernt und werden es
genauso in der nächsten Gruppe wiederholen.
(Wie zu Beginn erwähnt handelt es sich beim Text um eine polemische
Zuspitzung und gezielte Überzeichnung. Das viele Gruppenprozesse
trotz aller Schwierigkeiten auch funktionieren und wunderbares
hervorbringen soll damit in keiner Weise in Abrede gestellt werden. Es
ging um die Betonung der Wichtigkeit gemeinsamer Vereinbarungen
und des Nachdenkens über hierarchiefreie Strukturen. Ebenfalls richtet
sich der Text nicht gegen einen achtsamen Umgang miteinander und
wäre falsch verstanden, wenn die Probleme bei den Einzelnen
ausgemacht werden würden. Weiterhin ist die Unterscheidung
zwischen Bock haben/keinen Bock haben logischerweise so einfach in
der Realität nicht vorhanden. Damit sollte vielmehr eine verkürzte
Wahrnehmung beschrieben werden, warum Einzelne Inititive ergreifen
und sich Arbeit aufladen und andere kaum. Außerdem bin ich selbst
überhaupt nicht frei von voluntaristischem Denken und
individualistischem Handeln, was seine negativen Auswirkungen
angeht, sondern muss selbst fortwährend hinzulernen und mich kritisch
reflektieren.)

 

Bock und Vermeidung

  • April 4th, 2016
  • Posted in General

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